Nachdem Frank Willmann und ich in
den bei der Maltätigkeit üblichen 7 bis 10 Metern Abstand den
Strich am Zaun des Lenné-Dreieck gezogen
hatten, erreichte ich als erster wieder die Beton-Mauer, die nach Ende
des Lenné-Zauns mit einem kurzen Stück
Richtung Westberlin hervorstand und dann nach links abging. Als Willmann
seinen Strich an meinen Strichstartpunkt angeschlossen hatte suchte
er sich einige Meter vor mir einen neuen Startpunkt, an den ich ebenfalls
bald mit meinem Strich aufschloß, um mir -an ihm vorbei-
gehend- meinerseits meterweit
vor ihm einen neuen Startpunkt für einen weiteren Ab-
schnitt für den zu ziehenden
Strich zu suchen. Den hatte ich dann gerade einige Meter gezogen, als die
Aktion auf drastische Weise ihr Ende fand. Jürgen Onißeit schob
zu dieser Zeit den Utensilien-Wagen über Tiergartens Wege, sein Bruder
lernte vermutlich gerade Linksabbiegen bei seinem Fahrlehrer und Frank
Schuster saß in irgendeinem Wartezimmer.
"Wolfram !" rief der einige Meter
rechts von mir entfernte Willmann, der möglicherweise durch die optische
Distanz und schräge Perspektive zu der plötzlich auftretenden
Gefah-
renquelle diese von seinem linken
Augenwinkel aus bemerkt hatte. Vielleicht hatte er auch gerade mit dem
Pinsel neue Farbe aus dem Eimer aufnehmen wollen und sich deshalb
nach links zu drehen begonnen und so die Blick-Fixierung auf die Mauer
unterbrochen. Als ich mich auf Willmanns Ruf hin kurz zu ihm nach rechts
drehte und ihn noch im Moment des Rufs in seinem hellgrauen Mantel davonhuschen
sah, drehte ich mich daraufhin sofort nach links um und fand mich mit drei
vor mir stehenden Grenzposten konfrontiert, die mich unter Androhung von
Waffengewalt zum Mitkommen zwangen. Es waren nicht nur die Sekunden zwischen
Willmanns "Wolfram !" und meinem Gewahrwerden der drei Grepos, die mir
nun zur Flucht fehlten, es waren auch die schätzungsweise die Meter,
die Frank Will-
mann von der unmittelbaren Gefahrenquelle
entfernt gewesen war, welche mir nun fehl-
ten. Angesichts der Aussichtslosigkeit
der Situation dachte ich sofort an die Aussagen der Westberliner Polizei
und ging -ähnlich wie der sich später dazu äußernde
Frank Schuster- davon aus, daß ich nach zwei Wochen wieder frei sein
würde.
Es ist richtig, daß die Grenzposten
aus einem kleinen Mauertürchen kamen, man muß aber hinzufügen,
daß sie dies -strategisch klug- offenbar bereits eine Weile vor unserem
Er-
scheinen getan hatten und sich dann
im Tiergartengebüsch auf uns wartend versteckten. In diesem Fall hatte
die "BZ" mit ihrer Schlagzeile "Grepos lauerten in ihrem Rücken" völlig
recht. Wären die Grepos vom Lennedreieck her gekommen hätte man
sie vermutlich hören können. mindestens jedoch angerannt gekommen
sehen, denn trotz der optischen Fixierung auf den zu ziehenden Mauerstrich
sah man ja beim Vorwärtslaufen immer auch nach vorn und nach hinten
zu den anderen. Das Risiko des Scheiterns wäre also in diesem Zugriffs-Versuch
für die Grepos ziemlich hoch gewesen, sodaß sie einfach auf
uns warteten, um denjenigen, der als erster ihre Höhe erreichen würde,
von hinten zu stellen. Starr, ruhig und entschlossen standen sie
vor mir, während Frank Willmann längst verschwunden war. Es hatte
die von Willmann behauptete angebahnte Auseinanderset-
zung zwischen ihm und den Grepos
nie gegeben, denn dann hätte ich es genauso mitbekommen wie Willmanns
"Wolfram !" und die Grepos hätten auch nicht plötzlich so ruhig
und bewegungslos hinter mir gestanden. Außer der Grepo-Gruppe, die
hinter mir stand hatte es auch keine weitere, an anderer Stelle auftauchende
Gruppe gegeben. Demnach ging die einzige Bedrohung von der mich festnehmenden
Grepo-Gruppe aus und die war genauso weit weg von Frank Willmann. wie es
dieser durch den üblichen Strichabstand von mir gewesen war.
Später stellte man einem der
damaligen Grenzposten die Frage, was sie im Falle des Widerstands getan
hätten. "Dann hätten wir ihn flachgelegt" antwortete er. Wohingegen
sie vom flüchtenden Frank Willmann absahen, weil ihnen, wie derselbe
Grenzer äußerte, der eine Festgenommene reichte, um die "Provokation"
zu beenden und die Angelegenheit aufzuklären.
Ich wurde von den drei Grenzposten
ins Lenné-Dreieck abgeführt, wo
sich weitere Grenz-
posten befanden. Während des
Weges dorthin packten mich die Posten weder am Arm noch schrie ich
meinen Namen, wie einen Tag später in einer offenbar auf Aussage der
einzigen möglichen Ohrenzeugen Willmann und J.Onißeit zustandegekommenen
BZ-
Schlagzeile zu lesen war. Es machte
gar keinen Sinn, seinen Namen lautstark mitzuteilen, denn die anderen
Mauermaler wußten ja, wie ich hieß und Willmann hatte die sich
an-
bahnende Festnahmesituation ansatzweise
noch mitbekommen.
Im Lenné-Dreieck
wurde ich fotografiert, gefilzt und durch ein Mauertürchen, auf dem
von irgendeinem Mauermaler kurioserweise "Eintritt hier" aufgesprüht
worden war, unter aggressivem Ton und gezielten Stiefeltritten auf meine
Schuhhacken in den inneren Bereich zwischen Ost-und Westmauer (den sogenannten
"Todesstreifen") kommandiert. Dort mußte ich in einem Wachturm -weiterhin
begleitet von verbaler Aggression- mit dem Gesicht und den Händen
zur Wand stehen.
Nach einigen Minuten wurde ich, den
Kopf nach unten gedrückt, um nicht zu sehen, wo ich mich befand und
wo wir hinfahren würden, in einen Militärkleinbus gedrängt
und mit diesem in ein Grenzpostenhäuschen auf dem Todesstreifen gebracht,
wo ich in einer Zelle auszuharren hatte, ohne zu wissen, wie lange ich
dort bleiben muß und was anschließend passieren würde.
Schließlich holte man mich wieder heraus und brachte mich in einen
Ver-
hörraum. Ich erklärte,
der Strich solle die Mauermalereien durchstreichen. Eine Absicht, die ja
im Grunde sogar im Sinne der DDR war, welche die Malereien immer für
Schmiere-
reien, Sachbeschädigung und
teilweise auch Provokationen hielt. Daß wir die Malereien durchstrichen,
um ihre Wirkung auf Westberlins Leben ins Bewußtsein zurückzurufen
muß-
te man dem Vernehmer ja nicht auf
die Nase binden. Eine telefonische Abfrage meiner Person ergab, daß
ich etwa 2 Jahre zuvor noch in der DDR als politischer Gefangener in Haft
gesessen hatte. Damit war klar, daß es sich um eine Aktion gegen
die DDR handeln musste. ( MfS und Grepo agieren nach denselben Mechanismen
wie westliche Journali-
sten, nur mit umgedrehter Wertung.
Auch bei den Westjournalisten war klar, daß es sich bei Ex-DDR-Oppositionellen
um eine Aktion gegen die DDR handeln mußte und im Unter-
schied zu Grepo und MfS begrüßten
sie eine solche Aktion natürlich.)
Ich nannte vier Falschnamen. Ich
prägte mit die Namen gut ein, damit ich sie auf Anfrage schnell und
flüssig wiederholen konnte. Daraufhin wurde ich wieder in die Zelle
gebracht, aus der ich weitere Minuten später herauskommandiert und
daraufhin in einem Pkw nach Ostberlin zur Stasivernehmung gefahren wurde.
Wir fuhren durch das Brandenburger Tor und zwei asiatische Touristinnen
sahen mich. Vermutlich dachten sie, man hätte mich bei einem Fluchtversuch
festgenommen. Ich konnte nicht mitbekommen, ob sie unserem Auto noch
nachsahen, denn ich durfte mich nicht umdrehen. Ostberlin kam mir unglaublich
arm-
selig und grau vor. Nicht zu glauben,
daß ich in dieser Stadt, als ich noch im thüringischen Weimar
wohnte, für Ostverhältnisse einmal eine gewisse Großstadtlebendigkeit
vorgefun-
den hatte. Andererseits ist es ja
wiederum oft die Tristesse, in der sich Sehnsucht erst zusammenbraut und
diese dann im günstigen Fall zum Antrieb für Revolte wird.
Angekommen in Hohenschönhausen
begann eine lange, erwartet aggressiv geführte Vernehmung. Es
hilft nichts, wenn man die Unterstellungen, man sei von Geheimdiensten
finanziert, bereite eine Sprengung vor oder wolle die reale Grenzlinie
zur Mauer hin verschieben völlig absurd und lächerlich findet.
Die Lächerlichkeit bleibt einem angesichts der Hartnäckigkeit
der Vorwürfe und der Unmöglichkeit, sie zu entkräften, im
Halse stecken.
Am Abend teilte mir der Vernehmer
mit, daß ich verhaftet sei und gegen mich ein Er-
mittlungsverfahren wegen Grenzverletzung
eingeleitet würde. Der auch bei DDR-Flucht verwendete Paragraph sah
je nach Schwere der "Tat" zwischen 1 und 8 Jahren Gefängnis vor. Ich
zum ersten Mal ernsthaft geschockt. Ich brach kurzzeitig zusammen, ließ
mich
vom Stuhl fallen und beschimpfte
den Vernehmer, bis ich schließlich in Tränen ausbrach. Alles
kam innerhalb weniger Momente auf einmal zusammen: Geschocktsein, tiefe
Verachtung, Trennungsschmerz , Opferbewußtsein. Die Zigarette, die
ich nach meiner Raserei zur Beruhigung rauchen durfte, war in kurzer Zeit
tränendurchweicht, während ich mich bereits mit meiner radikal
geänderten
Zukunftsperspektive halbwegs abzufinden versuchte.
Meine Westberliner Freundin befand
sich im 6.Monat schwanger. Unabhängig davon war die Aussicht
auf möglicherweise fünf Jahre Haft, zumal in der DDR, ein absoluter
Schock. Aus den zwei Wochen, welche die Westberliner Polizei mitgeteilt
hatte wurde die Ankün-
digung einer gefühlten Ewigkeit.
Die Festnahme
in den Medien
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Fotos zur Festnahme
Tiergarten-Seite des -Dreieck-Zaun
von der Mauer aus fotografiert. Er grenzte ur-
sprünglich an ein aus der eigentlichen
Mauer herausragendes Mauerstück (links) an, wur-
de aber von Westberlinern geöffnet,
damit sie auch im Lennedreieck die Mauer bemalen konnten. Ganz rechts der
waldige Beginn des Tiergartens, davor der Ansatz einer drei Meter
parallel zur Mauer verlaufenden Wegabbiegung, auf der sich ca 300 Meter
rechts die Festnahme ereignete. Weitere circa 300 Meter vom Festnahmeort
entfernt befand sich das Brandenburger Tor. Auf dem einstmaligen Spazierpfad
vor der Westmauer, auf der die Festnahme und Abführung stattfand befindet
sich heute eine zweispurige, vielbefahrene Straße. Durch den Bereich,
der hier offen ist und es auch am 4.11.19 86 gewesen war wurde ich von
den drei Grenzposten (gewissermaßen von recnts außerhalb des
Bildes) ins Lenné-Dreieck gebracht.
Hinter dem links im Bild sichtbaren etwa 5 meter langenv Mauersegment,
daß aus der eigentlichen Mauer rechtwinklig hervorstand durchsuchten
und fotografierten mich die Grenzposten. Dort befand sich auch die kleine
Mauertür, durch die die Grepos gekommen waren und durch die sie mich
in den Streifen zwischen Ost-und Westmauer brachten.
Festnahmeort. Diffus sichtbar ganz
hinten zwischen Wald und Mauer das Brandenburger Tor. Etwa in der Bildmitte
endet der Strich, erzwungen durch die Festnahme. Rechts ausserhalb
des Bildes befand sich während meiner Verhaftung Frank Willmann, der
seinen Strichabschnitt noch nicht an meinen Startpunkt angefügt hatte.
(FotoCopyright
Stefan Micheel)
Der weisse Strich wurde immer in
die linke Richtung gezogen. Foto eines DDR-Grepos von Westberlin aus. Deutlicher
Abstand zwischen den zwei Maler-Standorten, hier an den beiden Farbeimern
sichtbar. Der Strich hat eine Lücke, weil er dort nicht bis zum linken,
vorangehenden Strichabschnitt zu Ende geführt ist. Die 3 Grepos,
welche den voran-
gehenden, also links postierten
Mauermaler umstellten konnten nicht zugleich den an-
deren umstellen. Und eine zweite
Greppo-Gruppe war nicht vorort gewesen. (Kopie MfS-Unterlagen W.Hasch)
BZ-Zeile, realítätswahr:
Die Grepos rannten nicht von der Mauertür auf uns zu, sondern lauerten
im Rücken und traten dann hervor, als der erste Mauermaler (ich)
ihre Höhe erreicht hatte.
BZ, 5.11.86. Sichtbar der bereits
damals geöffnete Metallzaun rechts vor der Tür. In der zwischen
Quermauer und auf der linken Seite vorragendem Mauersegment wurde ich
fotografiert. Circa 200 Meter links
wude ich festgenommen, weitere circa 200 Meter vom Festnahmeort entfernt
befand sich das Brandenburger Tor.
FÜR
GrÖSERE ANSICHT AUF BILD KLICKEN
Festnahme-Skizze DDR-Grepos. Der
Zipfel links im Bild stellt das Lenne-Dreieck dar. Rechts unten von diesem
Dreieck befindet sich ein unterbrochene, sechseckiger Würfel,
der den Ostberliner Leipziger Platz darstellt. Zwischen Lennedreieck und
Leipziger Platz befindet sich die Berliner Mauer. Oben am Bildrand der
kleine Kreis mit dem Schrägstrich markiert den Ort der Festnahme,
von wo aus ich den nach unten führenden Strich entlang ins Lennedreieck
abgeführt wurde. Das nachträglich auf die Skizze eingezeichnete
F mar-
kiert die Stelle, wo ich durchsucht,
fotografiert und anschließend durch eine Mauertür in einen Wachturm
auf dem Mauerstreifen gebracht wurde.
Festnahme-Foto im Mauerwinkel des
Lenné-Dreieck,
von den Grepos gemacht. Rechts außerhalb des Bildes befand sich das
Mauertürchen, durch das ich in den Bereich zwi-
schen Ost- und Westmauer gebracht
wurde. Das linke Mauersegment ist nur ca 5 Meter lang und schließt
an den im oberen Bild sichtbaren, von Passanten aufgehebelten Zaun des
Lennedreiecks an. Der Mauerteil rechts im Bild ist die eigentliche Berliner
Mauer, aus dem das Fünf-Meter Segment als Anfang des Lennedreieck-Zaunes
lediglich herausragt.
Am gleichen Ort wurde ich auch ohne
Maske fotografiert. Der blasse weisse Strich oberhalb meines Kopfes stellt
nicht den gezogenen weissen Strich dar, sondern ist ein Kopie-Streifen
der BSTU-Kopie. (Foto DDR-Grepos, MfS Unterlagen W.Hasch)
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